tip, 27.12.2013
Joanna Arnow hat ihren Gegenstand in sich selbst gefunden. In ihrer Experimental-Doku „i hate myself :)“ ist sie sich als Hauptakteurin auch in den intimsten Momenten mit der Kamera auf der Spur. Als Zuschauer gewinnt man den Eindruck, Arnow habe sich gewissermaßen zweigeteilt. So erlebt man die jüdische Filmemacherin zum einen involviert in ihre eigene private Welt, wie sie heulend das Ende ihrer Liebesbeziehung zu einem pseudoanarchistischen Performance-Künstler mit antisemitischem Ressentiment einleitet. Zum anderen sieht man sie als Regisseurin eine ironisch-professionelle Distanz zum dokumentierten Material wahren und kann kaum fassen, dass sie sich diesen exhibitionistisch-voyeuristischen Spagat überhaupt zumutet. Dass Joanna Arnow mit dem gerade geschassten Ex vor laufender Kamera Sex hat und die Aufnahmen ihrer fleischlichen Frust-Lust anschließend den eigenen Eltern auf DVD vorspielt, bezeugt wohl die Radikalität dieses auto-investigativen Film-Versuchs, den man sich schon ob seiner skurrilen Menschlichkeit unbedingt anschauen sollte.
Gelegenheit dazu hat man auf dem Festival Unknown Pleasures, das nunmehr zum sechsten Mal mit dem Anliegen an den Start geht, einen Überblick über das zu geben, was zeitgenössische Independent-Filmkunst in den USA abseits des Mainstreams leisten kann. Ein weiterer interessanter Beitrag ist auch Matt Wolfs „Teenage“, der über eine Komposition historischen Archivmaterials die kulturgeschichtliche Entwicklung des Teenager-Phänomens nachzeichnet, das um 1900 mit dem allmählichen Ende der Kinderarbeit aufkam. Zu Originalaufnahmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden von vier jungen Sprechern (darunter Julia Hummer) verschiedene Lebensgeschichten von Teenagern aus England, Deutschland und den USA erzählt. Der mit treibendem Sound unterlegte Film möchte auf die Notwendigkeit des Konfliktes zwischen den Generationen und auf die schöpferischen Potenziale hinweisen, die im jugendlichen Aufbegehren gegen althergebrachte Strukturen liegen.
Obwohl es bei den Unknown Pleasures keine programmatische Linie gibt, hat die historisch-politische Doku auf dem diesjährigen Festival Konjunktur. Ein Beispiel hierfür ist nicht zuletzt „An Injury to One“ von Travis Wilkerson, dem die Festivalleitung eine der beiden Rubriken des Spezialprogramms gewidmet hat. Wilkerson selbst erzählt aus dem Off die Geschichte des amerikanischen Minenarbeiters und Gewerkschafters Frank Little, der aufgrund seines sozialistischen Engagements im Jahr 1917 unter nie geklärten Umständen ermordet wurde. Der Regisseur macht in diesem Hybrid aus Film und Videoclip mit jedem Bild, jedem Satz und jedem Ton auf die ausbeuterischen und menschenverachtenden Praktiken des Frühkapitalismus aufmerksam. Die Geschichte um den Arbeiter-Heros Little und die Montana-Mining-Company ist zwar durchaus interessant, aber die in Textform durchs Bild laufenden Klassenkampf-Gemeinplätze sind dann doch etwas zu viel des Guten.
Die Dokumentation „Northern Light“ hingegen verzichtet auf jeden Kommentar und zeigt anderthalb Stunden lang den familiären Alltag von zwei Schneemobilfahrern in Minnesota. Der Film versucht, seine Protagonisten und deren Umfeld nicht zu kompromittieren, auch wenn alle darin porträtierten Frauen entweder an massivem Übergewicht leiden oder an Body-Building-Wettbewerben teilnehmen. Da sich „Northern Light“ adäquat zum Alltag der dargestellten Personen gestaltet, sollte man für diesen Film ein gewisses Quantum Sitzfleisch mitbringen.
Neben Werner Herzog, der zum Festival die nunmehr zweite Folge seines „Death Row“-Projektes beisteuert, in dem er in den USA zum Tode verurteilte Mörder ihre Geschichten erzählen lässt, ist auch der große amerikanische Dokumentarfilmer Frederick Wiseman – nicht zum ersten Mal – mit einer Doku bei den Unknown Pleasures vertreten.
Sein vierstündiges Monumentalwerk „At Berkeley“ beleuchtet minutiös und mit enormer Liebe zum Detail die Protagonisten und Funktionsweisen der Maschine Universität. Wie fast immer bei Wiseman ist in dem unkommentierten Film ein gesellschaftspolitisches Anliegen erkennbar: So geht es in „At Berkeley“ nicht zuletzt auch darum, aufzuzeigen, inwiefern das kapitalistische System der Spätmoderne auf Wissenschaft und Bildung wirkt.
Zu den interessantesten Werken im Bereich der Spielfilme gehört Nathan Silvers „Soft in the Head“: ein kurzes, intensives Filmstück über eine verlorene Seele in Brooklyn – eine junge Frau, die ihr bipolares Wesen im Alkohol ertränkt. Wir erfahren wenig über diese Person, auch nicht, woher ihr Schmerz rührt. Von ihrem Freund aus dessen Wohnung verbannt, irrt sie durch die Straßen – ein Schattengewächs, eine „loose cannon“ für ihre Mitmenschen – und schlägt betrunken auf einer Feier der jüdisch-orthodoxen Familie ihrer einzigen Freundin auf. Deren geistig leicht benachteiligter Bruder verliebt sich in sie, doch man ahnt schon, dass es für die Figuren in diesem Film keine Erlösung gibt. „Soft in the Head“ ist ein melancholischer Film, der aber durchaus komische und anrührende Momente hat.
Ein wenig deplatziert auf dem Festival wirkt auf den ersten Blick Paul Schraders „The Canyons“, dessen eher konventionelle Oberfläche nicht so ganz zu den übrigen Beiträgen zu passen scheint. Nicht unbedingt sein bester Film, ist „The Canyons“ jedoch interessanter, als etliche Kritiken glauben machen wollen. Es ist viel Übles über Schraders jüngste, vom Sundance Film Festival ausgeschlossene Arbeit geschrieben worden, die reklamiert, in die menschlichen Abgründe des Systems Hollywood hineinzuleuchten. Nicht wenige Kritiker sind allerdings der Meinung, es handele sich dabei lediglich um eine softpornografische, auf Hochglanz polierte Daily-Soap-Episode in Spielfilmlänge. Ein Eindruck, der nicht zuletzt wohl auch durch die Besetzung der Hauptrollen mit dem Pornodarsteller James Deen und der Skandalnudel Lindsay Lohan entstanden sein mag.
Wer allerdings jemals etwas von dem für das Drehbuch verantwortlichen Bret Easton Ellis gelesen hat, der weiß, dass das Plastik-Universum wohlstandsverwahrloster Gestalten mit offener sexueller Orientierung eine ureigene Domäne dieses Autors bezeichnet, ja dass die existenzielle Leere den Hauptgegenstand von Ellis’ Prosa darstellt. Insofern kann man die Pop-und-Porno-Besetzung sowie die oberflächlichen Dialoge auch als kongeniales Stilmittel und somit als durchaus konsequent begreifen, zumal Lindsay Lohan hier eine wirklich gute Figur abgibt.
Letztlich gibt es bei den Unknown Pleasures, abgesehen von einem gewissen Mut zum ästhetischen und narrativen Wagnis, zum Glück nur wenig Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Beiträgen. Und auch wenn nicht alle Filme als reines Vergnügen bezeichnet werden können, sollte es sich in jedem Fall lohnen, in den ersten beiden Wochen des neuen Jahres im Babylon Mitte vorbeizuschauen.