Der Tagesspiegel, 5.12.2016
Es gibt Worte, die speichern das Unrecht vergangener Tage. Wer sie ausspricht, aktualisiert mitunter eine grausame Vergangenheit und kippt den Müll der Geschichte in die Gegenwart aus. Sprache kann ein Instrument von Gewalt sein und aktiv traumatisieren. Deshalb – und nicht aus Gründen formaler Political Correctness – gilt es, ein wie auch immer diskriminierendes Vokabular aus dem alltäglichen Wortschatz auszuscheiden.
Kann es in abgesteckten Räumen aber, zumal in der Literatur und im Theater, nicht eben geboten sein, einen belasteten Begriff zur Sprache zu bringen, um die menschenfeindliche Geisteslandschaft zu kartieren, deren Boden er entwachsen ist? Hat die Kunst nicht gerade in Zeiten eines reaktionären Rollbacks den gesellschaftlichen Auftrag, an die Schmerzgrenze zu gehen, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wie die der Ouroboros in den Schwanz beißt?
Die Berliner Sophiensæle sind jedenfalls nicht dieser Auffassung. Im Rahmen des derzeit laufenden Freischwimmerfestivals, das jungen Theaterschaffenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eine transnationale Plattform bietet, kam es zu einem eigentümlichen Fall von Zensur. Das Stück „Die Leopardenmorde“, in dem der Regisseur und Autor Timo Krstin die faschistische Vita seines Großvaters George Ebrecht vom verstaubten Dachboden her ins gleißende Bühnenlicht zerrt, wurde nach der ersten Vorstellung abgesagt. Der Grund – so die Verantwortlichen auf ihrer Webseite – sei „der künstlerische Umgang mit einem Schriftstück aus den 1920er Jahren“, das mit „deutlich zu geringer kritischer Distanz“ vorgetragen werde.
Konkret geht es darum, dass das Künstlerkollektiv K.U.R.S.K., dem Timo Krstin angehört, Passagen aus dem autobiografischen Romanversuch des besagten Großvaters verliest. In dem kolonialen Selbstzeugnis ist der rassistische Ausdruck „Neger“ ein häufig verwendeter Terminus. Nach der Aufführung wurde die Gruppe dazu angehalten, auf das N-Wort, das man dem afrodeutschen Publikum nicht zumuten wollte, beim nächsten Mal zu verzichten.
Die Theatergruppe K.U.R.S.K. hielt das für Verrat am eigenen Konzept und wurde von den Sophiensæle zeitweilig aus dem Festival ausgeschlossen. Trotz der dezidiert antirassistischen Agenda des Stücks sieht sich die Gruppe nun mit dem mindestens impliziten Vorwurf des Rassismus belegt…