Der Tagesspiegel, 09.09.2023
Von allen demokratischen Parteien in Deutschland wird regelmäßig mit Nachdruck erklärt, was für ein großes Geschenk es doch ist, dass hier der braunen Vergangenheit zum Trotz wieder buntes jüdisches Leben existiert. Es werden 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte und das „christlich-jüdische Abendland“ beschworen. Und weil es meistens eher christlich-antijüdisch zuging, bis hin zum Massenmord an 6 Millionen Menschen, verwundert es nicht, dass die zur Schau gestellte Läuterung wesentlich die deutsche Gedenkkultur prägt. Die Jüdinnen und Juden in diesem Land, oder vielmehr die Bilder, die die Mehrheitsgesellschaft sich von diesen für ihr eigenes Gedenken gemalt hat, stellen für die Bundesrepublik auch ein symbolisches Kapital dar. Soziologisch und kulturwissenschaftlich betrachtet ist das jüdische Leben in Deutschland indes eine Art Geisterkategorie. Ein undurchsichtiger Begriffscontainer, der nur wenig mit empirischem Inhalt befüllt ist.
Schon der Soziologe Y. Michal Bodemann hat in den 1980er- und 90er Jahren das deutsche „Gedächtnistheater“ untersucht, in dem Jüdinnen und Juden als bloße Statist*innen einer ritualisierten „Wiedergutwerdung“ fungierten. Zugespitzt sei die „jüdische Gemeinschaft“ letztlich vor allem eine „deutsche Erfindung“, an der sich die Nicht-Juden abarbeiten können, indem sie ihre „gnädige Betroffenheit“ zeigen. Eine Praxis, die dann auch von Max Czollek beschrieben und von Judith Coffey und Vivien Laumann als „gojnormativ“ kritisiert worden ist. In den Schuld-und-Sühne-Erzählungen der „Gojim“ – was auf Hebräisch Nicht-Juden bedeutet – seien jüdische Blickwinkel kaum repräsentiert. Außer ein paar öffentlich präsenten Personen, die sich in den polarisierenden Debatten über „jüdische Themen“ in den Feuilletons beharken – wie aktuell auch in der Causa Hubert Aiwanger – sind Juden in Deutschland eher wenig zu sehen. Wer genau aber diese Menschen? Wie sehen ihre Lebensrealitäten und Selbsterzählungen aus? Und wie stehen sie mehrheitlich zu jenen Debatten, die ihre vermeintlichen Belange betreffen?...