Der Tagesspiegel, 14.10.2021
Brach Nazideutschland deshalb so vollständig mit allem, was bislang als heilig und gut gegolten hatte, weil den Deutschen der Gottglaube ausgetrieben wurde? Oder sind die in der Shoah und an der Ostfront verübten Gewaltexzesse im Gegenteil die Folge eines religiösen Wahns? Manfred Gailus, Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, gibt hierauf eine eindeutige Antwort. Gegen jene Lesart, die den NS als eine Epoche „forcierter Gottlosigkeit“ versteht, spricht Gailus von „kollektivem Hunger auf Heil“, einer „Rückkehr des Religiösen“ unter Hitler und allgemein von „gläubigen Zeiten.“ Das Buch zum Thema, gerade erschienen, führt die Ergebnisse seiner seit drei Jahrzehnten andauernden Forschung zum Verhältnis von Religion, Kirche, Konfessionen und Nationalsozialismus auf engstem Raum zusammen.
So stellt Gailus unter anderem die Frage, wie die Deutschen trotz des propagierten Gegensatzes von Nationalsozialismus und Christentum, in „beiden Welten“ zu Hause sein konnten. Die Zahlen der Religionsstatistik nämlich offenbaren in der Tat ein merkwürdiges Bild. 96 Prozent der Deutschen gehörten den christlichen Konfessionen an. Zwei Drittel davon waren protestantisch geprägt, das andere Drittel katholisch. Gleichzeitig hatte die Massenpartei NSDAP zu Hochzeiten 9 Millionen Mitglieder. „Zahlreiche Menschen praktizierten eine Doppelgläubigkeit, sie blieben ihrer christlichen Sozialisation verhaftet und begeisterten sich gleichzeitig mit gläubiger Emphase für das Deutsche Volk und seinen angeblichen Führer“, sagt Gailus im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Dass der Nationalsozialismus ein verschwörungsideologisches Glaubenssystem darstellte, in dem die christliche Theologie durch einen metaphysisch überhöhten Volksbegriff abgelöst wurde, ist laut dem Historiker nur teilweise richtig. Denn obwohl die Nazis beabsichtigten, die Kirchen als gesellschaftliche Kräfte vollends zu marginalisieren, wurde die christliche Religiosität durch den völkischen Neuglauben oft nicht verdrängt, sondern vielmehr überwölbt. Geschichtsphilosophisch betrachtet könnte man sagen, dass das Christentum vom Nationalsozialismus im dialektischen Sinne „aufgehoben“, also „negiert“ und doch „bewahrt“ wurde...