Der Tagesspiegel, 29.4.2019
Die Vergangenheit, so sah es Walter Benjamin, ist offen, immer in Bewegung. Von einer sich wandelnden Gegenwart aus, wird sie fortlaufend anders betrachtet. In jedem Moment bilden Gestern und Heute eine eigene „Konstellation“. Die Geschichtlichkeit der Betrachtenden selbst beeinflusst den Blick auf die Geschichte. Was vormals eher nebensächlich war, rückt auf einmal in den Fokus.
Deutlich wird diese Einsicht am jüngst erwachten Interesse an der Weimarer Republik, das mit den Erinnerungsroutinen zum hundertjährigen Jubiläum keinesfalls hinreichend erklärt ist. Der Hype um die Serie „Babylon Berlin“ und mediale Warnungen vor „Weimarer Verhältnissen“ zeugen von der neu entfachten Aufmerksamkeit.
Als Sphäre des Aufbruchs und der Emanzipation, als Werkstätte freiheitlicher Lebensformen stellt die Weimarer Republik einen Sehnsuchtsort dar. Gleichzeitig gilt das erste deutsche Demokratieprojekt vielen als Menetekel und wird als Chiffre des Scheiterns und Mündung in die Katastrophe erinnert. Was aber bedingt das gesteigerte Interesse an Weimar, das in der deutschen Erinnerungskultur lange keine nennenswerte Rolle spielte?...