Der Tagesspiegel, 27.4.2020
Herr Hirschi, Sie haben zur „Geschichte der Experten“ geforscht, deren diskursive Macht in Zeiten der Corona-Pandemie offensichtlich zunimmt. Ist der Experte/die Expertin in Krisenzeiten eine notwendige Orientierungsfigur?
Die Politik wäre in der aktuellen Situation ohne wissenschaftliche Expertise verloren. Sie hätte keine Chance, die potenziellen Folgen bestimmter Maßnahmen abzuschätzen. Gleichzeitig sind Expertinnen und Experten nur bedingt beratungsfähig, da ihnen wichtige Erkenntnisse zum Coronavirus noch fehlen.
Das ist das Paradox der aktuellen Krisenpolitik: Regierungen brauchen Experten mehr denn je, diese aber können in entscheidenden Punkten noch keine wissenschaftlich fundierten Empfehlungen abgeben. Die Situation ist nicht ganz ungefährlich, denn es kann der Eindruck eines wissenschaftlich induzierten Sachzwangs aufkommen, wo mangels gesicherten Wissens eigentlich keiner besteht.
Sie meinen, die Politik stellt auf ihre wissenschaftliche Fundierung ab, obwohl die Wissenschaft gar nicht in der Lage ist, einen klaren politischen Fingerzeig zu geben?
Die Politik möchte Diskussionen vermeiden, wenn sie bei hoher Ungewissheit massive Eingriffe ins gesellschaftliche Leben vornimmt. Da ist die Versuchung groß, die wissenschaftliche Fundierung zu überdehnen. Vor einem Monat wurden Schulen allein auf der Basis von epidemiologischen Modellrechnungen geschlossen, ohne dass man die Ansteckungsgefahr durch Kinder empirisch abgeklärt hatte. Nun sollen sie wieder geöffnet werden, und die Frage ist – wie Christian Drosten jüngst betonte – noch immer nicht abschließend geklärt.
Wenn sich die Politik in so entscheidenden Belangen gar nicht auf wissenschaftliche Erkenntnis abstützen kann, stellt sich die Frage, ob der Gleichklang der Maßnahmen, den wir in fast allen europäischen Staaten beobachtet haben, nicht einem anderen Gesetz folgt.
Welches könnte das sein?
Das, was die Organisationstheorie mimetischen Isomorphismus nennt: In Krisenzeiten kommt es zur Angleichung durch Nachahmung, weil Organisationen, um Risiken zu minimieren und schnell zu reagieren, das tun, was andere bereits getan haben, ohne zu prüfen, ob es der eigenen Kultur oder Gesellschaftsstruktur angemessen ist. Täten sie etwas anderes, würde das nicht nur Zeit, sondern auch zusätzliche Rechtfertigungsarbeit kosten.
Mein Eindruck ist, dass in der Coronakrise genau das passiert ist: Mangels gesicherten Wissens haben die Staaten, die später betroffen waren, jene kopiert, die früher dran waren, wobei es im März unter öffentlichem Druck zu einer Verschärfungskaskade kam. Experten hatten dabei auch die Funktion von Übersetzern. Sie erklärten Politikern in Europa, wie die Regierungen in Taiwan, Südkorea, Singapur und China das Virus bekämpften und was daraus zu lernen sei. So wurde Europa zum Schüler Asiens...