Der Tagesspiegel, 15.01.2021
Herr Müller, vom Präsidenten aufgestachelt, attackiert ein rechtsextremer Mob die US-amerikanische Legislative. War der Sturm aufs Capitol der Versuch eines Staatsstreichs?
Er war der Versuch, das Ergebnis einer Wahl de facto zu ändern, den normalen demokratischen Prozess zu blockieren. Allerdings haben wir offenbar keinen sorgfältig geplanten Coup erlebt, etwa dahingehend, dass man versucht hätte, Militär oder FBI auf die eigene Seite zu bringen. Was sich abermals gezeigt hat, ist das merkwürdige Doppelgesicht des Trumpschen Phänomens. Auf der einen Seite gibt es eine reale Gefahr für die Demokratie. Auf der anderen Seite sitzt die Leitfigur der Bewegung vor dem Fernseher und hat keinen Plan. Das passt kaum in das einschlägige Bild von klassischen Autoritären.
Sie haben einmal betont, der Trumpismus zeichne sich weniger durch eine koordinierte Strategie, als durch ein loses Repertoire an Taktiken aus. Ist es das, was ihn von anderen Populismusformen unterscheidet?
Der Trumpismus setzt wie andere Formen des Populismus auch auf die anmaßende Erzählung, er allein vertrete den Willen des Volkes. Was hinzukommt, ist Trumps ausgeprägte Fähigkeit, die Schwächen des politischen Systems der USA und des Mediensystems für sich nutzbar zu machen. Was ich aber für falsch halte, ist die oft geäußerte These, andere Rechtspopulisten würden in die Trump-Schule gehen. Es ist nicht so, dass Trump so geschickt wäre, dass andere Autokraten von ihm lernen könnten. Im Gegenteil: der sorgfältig geplante „autokratische Legalismus“ eines Viktor Orban ist langfristig viel erfolgreicher als Trumps offensichtliche Tabubrüche und seine Aufstachelung zur Gewalt, die mir letztlich eher als Ausweis politischer Schwäche denn als ein Zeichen von Stärke erscheinen.
Und doch scheint der Trumpismus recht erfolgreich zu sein. Was sind denn die besagten strukturellen Schwächen, die sich die Trumpisten zunutze machen?
Nun, vor allem haben sie ein Mediensystem nutzen können, das auf der rechten Seite des politischen Spektrums eine in sich geschlossene Welt gebildet hat. Und das nicht erst seit Social Media. Das begann mit dem Aufkommen von Radiostationen, die seit den 80ern in Dauerrotation rechte bis rechtsextreme Denkmuster bedienen. Natürlich werden auch in Europa und anderswo mehr oder weniger hermetische Gegenöffentlichkeiten gebildet. Das Spezielle aber ist, dass sich daran in den USA auch vermeintliche Mainstream-Medien Medien wie Fox oder die Meinungsseite des Wall Street Journal beteiligen, die rechtsextreme Haltungen dann als Mainstreampositionen legitimieren. Was ebenfalls ins Gewicht fällt, ist das doppelte Spiel, das die republikanische Partei seit vielen Jahren spielt: dass sie einerseits versucht, als seriöse Mitte-Rechts-Partei wahrgenommen zu werden, andererseits zum Beispiel auch die Ideologie der White Supremacy bedient.
Sie sind der Auffassung, dass die viel diskutierte gesellschaftliche Spaltung in den USA keineswegs „naturwüchsig“ ist, sondern von der Republikanischen Partei seit langem performativ hergestellt wird. Wie kam es dazu und was sind die Motive dahinter?
Zunächst: Dass es in der Demokratie Konflikte gibt, gehört zu ihrem Wesen. Verheerend aber ist es...