Der Tagesspiegel, 4.12.2019
Was passiert mit einem Menschen, wenn ihm täglich gespiegelt wird, dass er kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist? Dass dauerhafte Diskriminierung psychisch krank macht und regelrecht „unter die Haut geht“, zeigte der französische Psychiater und Vordenker der Dekolonisierung Frantz Fanon bereits in den 1950er Jahren. In seinem von Jean-Paul Sartres „Phänomenologie des Blicks“ inspirierten Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“ untersuchte er, wie rassifizierten Menschen entfremdete Selbstbilder aufgeprägt werden.
Er zeigte, dass kolonialisierte Personen in eine nahezu schizophrene Haltung verfielen: Trotz emanzipatorischer Bestrebungen konnten sie oft nicht umhin, den Blick der Unterdrücker zu verinnerlichen und sich selbst als abweichend vom Normhaften zu sehen.
Vergleichbare Erfahrungen würden diskriminierte Menschen auch heute noch machen, sagt die Chemnitzer Kulturwissenschaftlerin Heidrun Friese. Die Professorin für Interkulturelle Kommunikation forscht zum Thema Alltagsrassismus und ist Mitherausgeberin des gerade erschienenen Sammelbandes „Rassismus im Alltag – Theoretische und empirische Perspektiven nach Chemnitz“.
Die pogromhaften Chemnitzer Ausschreitungen vom Spätsommer 2018 gelten den Autoren dabei als Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung. „Die Hetzjagden in Chemnitz kamen nicht aus dem Nichts, sie waren das Ergebnis einer rassistischen Alltagskultur“, sagt Friese. Mit dem Aufkommen von Pegida und AfD seien Ressentiments, die vormals bloß „geflüstert“ wurden, nun unverhohlener geäußert worden. Der Rassismus habe sich „aus seiner Schweigespirale heraus“ entwickelt, bis er in weiten Gesellschaftsteilen zur öffentlichen Meinung avancierte...