Der Tagesspiegel, 19.10.2020
Herr Niehr, die Konzepte und Vorstellungen des Gegners mittels Verschlagwortung sprachlich zu diskreditieren, ist eine Standardtechnik der politischen Kommunikation und gehört zum guten Ton demokratischer Debatten. Wo verläuft die Grenze zwischen legitimen und unlauteren Begriffen?
Eine feste Grenze ist in aller Regel schwer ausmachen, da sich der gesellschaftliche Konsens darüber, was sagbar ist und was nicht, ständig verändert. Außerdem ist die Bedeutung von Sprache kontextabhängig. Sich Einzelbegriffe anzuschauen, ohne deren Kontext zu betrachten, führt in der Regel in die Irre. So muss man zum Beispiel zwischen dem aktiven Gebrauch und der bloßen Erwähnung bestimmter Wörter unterscheiden. In Deutschland ist natürlich die Verwendung dezidierter NS-Begriffe aus historischen Gründen tabuisiert. Doch selbst hier erleben wir Versuche, das aufzuweichen. Als Frauke Petry vor einigen Jahren scheinbar naiv fragte, warum man den Ausdruck „völkisch“ nicht ganz normal verwenden dürfe, war das einer von vielen rechtspopulistischen Versuchen, belastete Begriffe zu rehabilitieren.
Mit welcher Intention?
Es geht um bewusste Tabubrüche. Und darum, eben genau die Begriffe selbstbewusst zu verwenden, die vom politischen Gegner abgelehnt werden. Wenn AfD-Mitglieder NS-Vokabular benutzen, geht es indes auch immer darum, eine bestimmte Klientel anzusprechen. Die weiß dann natürlich auch, dass sie gemeint ist.
Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei hat die Verwendung des generischen Femininums in einem Referentenentwurf von Justizministerin Christine Lamprecht als „Genderwahnsinn“ bezeichnet und adaptiert damit einen Kampfbegriff der Neuen Rechten. Ist das ein gutes Beispiel dafür, wie problematische Termini in den allgemeinen Sprachgebrauch sickern?
Ja, und ein interessantes Beispiel noch dazu. Der Ausdruck ist geschickt gewählt. Denn es gibt ja einen großen Unwillen weiter Teile der Bevölkerung was die Verwendung gendergerechter Sprache betrifft. Ein Begriff wie „Genderwahnsinn“ eignet sich hervorragend dazu, die Bemühungen um sprachliche Reformen zu diskreditieren. Mit einem solchen Wort kann man auch Leute mitnehmen, die für rechtspopulistische Phrasen ansonsten vielleicht gar nicht anfällig wären...