Tagesspiegel, 19.07.2024
Genozid, Kindermord, grausame Rachsucht, der jüdische Staat als Gefahr für den Weltfrieden – klassisch antisemische Motive prägen die globale Nahost-Diskussion. Doch immer wieder kriegt man dieser Tage zu hören, man könne ja nicht wissen, ob die „Israelkritik“ nun antisemitisch motiviert sei, oder nicht. Israel – immer als Ganzes adressiert – begehe großes Unrecht im Krieg mit der Hamas. Man werde doch hier noch Kritik üben dürfen! Was man natürlich auch ausgiebig tut.
Zwar äußern sich in Feuilletons diverse Aktivisten, die ihren akademischen Nimbus missbrauchen, um das Phänomen israelbezogener Antisemitismus zu verrätseln. Tatsächlich aber gibt es zu jener Unterscheidung zwischen sachlicher Kritik an politischer Praxis und einer vom Hass getragenen Verteufelung eine jahrelang gewachsene, umfassende Forschung.
Zur Erkenntnis aber wäre diese nicht einmal von Nöten – und zwar, weil sich die Fratze des Ressentiments in der „Israelkritik“ oft unverhohlen zeigt. Der vom Autor Natan Scharanski entwickelte Drei-D-Test, der prüft, ob die angeblich redliche Kritik mit Delegitimierung, Dämonisierung, sowie mit doppelten Standards operiert, ist für die Praxis gut zu gebrauchen. Ergänzt um das vierte D, die Derealisierung, also die verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung, wie die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel formuliert hat – wobei es, um diese adäquat zu entlarven, zugegeben doch ein wenig Faktenwissen braucht. So zum Beispiel auch, dass der Mehrheitszionismus eben keine siedlerkoloniale Unternehmung, sondern ein Emanzipationsprojekt darstellt, mit dem sich die Jüdinnen und Juden der Diaspora nach fast 2000 Jahren Unterdrückung und Vernichtung endlich eine Schutz- und Heimstätte schufen.
Doch auch ohne historisch-politisches Wissen lässt sich verkappter Antisemitismus nicht immer, aber meistens als solcher erkennen: So im Hinblick auf den Terminus der „Israelkritik“, der ja bereits auf der sprachlichen Ebene eine allgemeine Delegitimierung impliziert. Denn es gibt kein einziges begriffliches Pendant: Keine Jemen-, Türkei- oder China-Kritik, keine Iran- oder Uganda-Kritik, und sicher keine England- oder Deutschland-Kritik. Hier stellt sich doch gleichsam automatisch die Frage, warum mit Blick auf den jüdischen Staat ein obsessives „Kritik“-Bedürfnis herrscht, das häufig auch die Existenz als solche aufs Korn nimmt, sich aber von den so um Palästina Bemühten kaum jemand für Menschheitsverbrechen im Sudan, die Internierung und Misshandlung der Uiguren in China, oder tausende vom Staat ermordete Queers in der islamischen Republik Iran interessiert.
Auch ansonsten sollte besagte Unterscheidung zwischen legitimen Kritikformen und einer Fundamentalkritik an Israels Dasein als jüdischem Staat in den meisten Fällen recht einleuchtend sein – da muss man keine jahrelange Forschung für betreiben. Es reicht, wenn man sich klar macht, dass Antisemitismus nicht bloß eine projektive Abwertung bedeutet, sondern ein verschwörungsideologisches Konstrukt ist, das den Juden zum teuflischen Puppenspieler labelt, zum menschheitsgefährdenden Gegenprinzip, von dem die Welt unbedingt erlöst werden muss.
Zu meinen, dass Israel im Krieg mit der Hamas mehr auf die palästinensische Zivilbevölkerung achtgeben sollte, dass es diesen Krieg ziemlich rücksichtslos führt, ist nicht antisemitisch, jedenfalls nicht notwendigerweise. Den Verteidigungskrieg des jüdischen Staates gegen das schlimmste antijüdische Massaker seit dem Holocaust so zu interpretieren, als würde Israel einen gleichsam anlasslosen „Genozid“ betreiben, und damit die Ursache des Krieges zu vernebeln, wie es viele Akademiker und Künstlerinnen machen, ferner Teile der Medien, sowie Gremien der UN, hat indes ein antisemitisches Gepräge.
Dabei steht dieser sowohl mit Blick auf die Motivation als auch auf die Konsequenz des Handelns der israelischen Streitkräfte kontrafaktische Vorwurf schon seit etlichen Jahren im Raum und wurde auch gleich nach 10/7 bemüht, schon bevor die erste israelische Bombe fiel. Für diese uralte Hyperbolisierung braucht es den aktuellen Gaza-Krieg nicht.
Entgegen den Fakten wird das Vorhaben des Genozids wie oft in der Geschichte auf „die Juden“ projiziert: Nicht dass die Israelis bei der Verteidigung ihres neu gegründeten Flüchtlingsstaates keine Gewalt gezeigt hätten, eine genozidale Absicht aber hatte der Mehrheitszionismus nicht. Tatsächlich war es die von den Nazis agitierte dominierende Strömung der palästinensischen Nationalbewegung um den Großmufti Amin al-Husseini, die schon in den 1930er-Jahren auf die Auslöschung der nach Palästina emigrierenden Juden geeicht war.
Der panarabische Nationalismus kämpfte von 1948 bis zu seinem Niedergang offen für die Vernichtung Israels. Ebenso der transnationale Islamismus, der seit den 1970er-Jahren erstarkt ist. Das Massaker der Hamas steht in dieser Tradition. Antisemitismus wird immer als Notwehr ausgegeben, ist geprägt durch die Umkehr von Täter und Opfer.
Die unterbewussten Vernichtungsgelüste gegen den vermeintlichen „Zersetzer der Ordnung“, das personifizierte Prinzip der Moderne und vermeintliche Antlitz des Kapitalismus, werden den Gehassten schließlich selbst unterstellt. So scheint es legitim eben diese zu vernichten. Wenn sie sich dann wehren, und sei es mit Krieg, fühlt sich der antisemitische Geist in seiner irrigen Wahrnehmung bestätigt, dass die Juden die eigentlichen Völkermörder seien.
Die Light-Variante dieser falschen Projektion findet sich in Antisemitismusdebatten, die die Skandalisierung des Antisemitismus mehr skandalisieren als den Judenhass selbst. Auch viele Akademiker:innen in Deutschland scheinen mehr um die Freiheit zur Hassrede besorgt, als um die Freiheit von Jüdinnen und Juden, die in Europa häufig auf gepackten Koffern sitzen, weil sie die Gewaltstimmung hier nicht mehr ertragen. Wie schon im 19. Jahrhundert wird Gewalt gegen Juden in den Vorwurf des Antisemitismus projiziert, als „Angriff auf die Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit“. Als wäre nicht der dämonisierende Boycott israelischer Künstlerinnen und Forscher das Problem, sondern der in Unis und Kulturinstitutionen nach wie vor seltene Boycott der Boykotteure.
Auch in der Praxis vieler Gremien der UN schreit einen der Antisemitismus förmlich an: So wurde Israel vom UN-Menschenrechtsrat (in dem lauter Staaten versammelt sind, denen die Menschenrechte nichts gelten) häufiger verurteilt, als alle anderen Länder zusammen. Auf der Jahresversammlung der WHO im Mai 2016 wurde Israel als einziges Land dafür gebrandmarkt, die geistige und körperliche Gesundheit von Menschen und die Umwelt zu schädigen. Ein Großteil der Mitglieder stimmte für diesen Antrag, verschwindend wenige gegen ihn. Auch die UN-Fachkommission für die rechtliche Gleichstellung der Frau prangert regelmäßig Israel (und nicht etwa Saudi-Arabien, den Iran oder ein anderes Land, das Menschen- und Frauenrechte mit Füßen tritt) dafür an, diese Rechte in besonderer Weise zu gefährden.
Dies sind nur wenige von etlichen UN-Resolutionen, in denen das kleine Israel zur größten Gefahr für den Weltfrieden und die ganze Menschheit erklärt wird. Sie nähren das alte „Gerücht über die Juden“ (wie Adorno den Antisemitismus genannt hat), das diese zum Bösen, zum Gattungsfeind stempelt, dessen teuflische Natur seine Vernichtung erfordert. Hier zeigt sich die Umweg-Kommunikation des postnazistischen Antisemitismus im moralisch-geopolitischen Gewand in besonders greller und gefährlicher Weise. Léon Poliakov erklärte zu Recht, Israel sei heute der „kollektive Jude“, ja gleichsam der „Jude unter den Staaten.“
Die „israelkritische“ Betrachtung der UN und die Rezeption des Konflikts im Nahen Osten durch weite Teile der weltweiten Presse, in Kunstszenen und in akademischen Milieus, verzichten auf jedwede Ambiguität, die historischen Fakten werden derealisiert, die Palästinenser zu Opfern verklärt, die Juden zu Tätern dämonisiert. Nicht zuletzt in linksakademischen Kreisen, die vom Mindset des Postkolonialismus geprägt sind, und einem manichäischen „Denken“ aufsitzen, gerinnt der Kampf gegen den bösen Zionismus oft zum Kampf für die Befreiung der Menschheit. Die zum Fetisch avancierten Palästinenser gelten hier als Avantgarde im Kampf für das Gute. Ein regionaler Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen bekommt eine heilsgeschichtliche Bedeutung. Erlösungsantisemitischer Wahn wird hier für jede und jeden offenbar.
Eine ambiguitätstolerante Betrachtung, die nicht von Antisemitismus geprägt ist, kann israelische Politiker und Siedleraktivisten scharf kritisieren, doch darf nicht verleugnen, dass das Elend vieler Palästinenser nicht bloß Israel anzulasten ist, sondern vielfach auf die Kappe von Akteuren wie Hamas geht, die sich bei nicht wenigen Menschen der Region nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen – und das obwohl sie einen maßgeblichen Beitrag dazu zu leisten, dass der Staat Palästina ein Phantasma bleiben wird. „Propalästinensisch“ müsste mithin bedeuten zwar gegen die fundamentalistischen Teile der jüdischen Siedlerbewegung und die Regierung Netanjahu zu protestieren, doch auch gegen die Gräuel des politischen Islam. Wer „für Palästina“ und nicht bloß „gegen Israel“ ist, müsste der Hamas eine Kriegserklärung machen.
Eine von Judenhass gelöste Betrachtung des Krieges würde eben nicht bloß palästinensische Opfer beklagen, sondern auch reflektieren, dass sich noch immer viele Geiseln in den Händen der Mordbatallione befinden, die auch permanent Raketen nach Israel feuern. Eine solche Betrachtung würde die Hamas in ihren Worten und Taten umfassend ernstnehmen, und feststellen, dass diese eben keinen Frieden möchte, nie, in welchen Grenzen auch immer. Und dass jedes von Bomben getötete Kind einen weiteren Sieg im Propagandakrieg bedeutet, den auch deutsche Medien diensteifrig reproduzieren.
Eine differenzierte Betrachtung würde nicht notorisch verschweigen, dass die Terroristen ihre Kommandobasen bewusst in Schulen und Krankenhäusern platzieren, und dass es mithin nicht so einfach ist, gegen eine vom Todeskult geprägte islamistische Mörderbande zu kämpfen, die die eigene Bevölkerung als Schutzschild missbraucht. Auch müsste sie sich ernsthaft mit der Frage befassen, wie sich gegen eine solche Gruppierung im urbanen Raum auf „humane Weise“ Krieg führen ließe.
Doch viele „Kritiker“ scheinen zu meinen, dass die Israelis sowieso kein Verteidigungsrecht haben und dass die seit der Gründung des Staates (und natürlich auch vorher) von Vernichtung bedrohten Jüdinnen und Juden nach der Shoah und dem Pogrom der Hamas doch bitte noch „die andere Wange“ hinhalten sollen. Wo – so müsste man diese Leute fragen – kommt eigentlich dieser wahnwitzige Doppelstandard her, der Massenvergewaltigung von Frauen und die absichtsvolle Abschlachtung von Kleinkindern als Befreiungskampf, die leider viele zivile Opfer fordernde militärische Antwort darauf aber als Genozid labelt? Und warum scheint es für manche skandalös zu sein, dass Juden sich wehren und auf eine unnachgiebige Weise Krieg führen? Woher rührt diese hohe moralische Erwartung, die man an andere nie herantragen würde – und schon gar nicht an die Palästinenser?
Selbstredend muss über die schlimme Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung gesprochen werden. Aber eben in einer differenzierten Weise, die den Anteil palästinensischer Akteure an diesem Leid nicht verschweigt, ohne dass man dabei die Meinung vertreten müsste, Israel mache grundsätzlich alles richtig – was es selbstverständlich nicht tut. Und natürlich können und müssen israelische Kriegskabinette und extremistische Siedler für ausufernde Gewaltaktionen kritisiert werden.
Doch wer „Israelkritik“ übt, muss auch „Palästinakritik“ üben, sonst muss er oder sie sich den Vorwurf gefallen lassen, entweder antisemitisch zu sein oder Antisemitismus Vorschub zu leisten – so kann jemand bei entsprechender Diskurslage natürlich auch antisemitische Phrasen wiederholen, ohne tiefgehend antisemitisch zu fühlen. Jedenfalls gilt: Wo fast ausschließlich über das Leid der Palästinenser berichtet und dieses zum Schüren antizionistischer Ressentiments missbraucht wird, während der 7. Oktober und die israelischen Geiseln höchstens noch als Fußnoten vorkommen, ist die Grenze zum Antisemitismus überschritten.
Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung interessiert ihre vorgeblichen Freunde nicht wirklich. Den Queers for Palestine sind Queers in Palestine egal, sonst müssten sie sich gegen die Hamas engagieren, die queerem Leben wirklich nicht viel abgewinnen kann. „No Jews, no News“ ist der implizite Leitfaden antisemitischer Affektökonomie. Israelbezogener Antisemitismus grassiert auch ohne das Leiden in Gaza. Er stellt sich an diesem lediglich scharf, um sich dann hemmungslos auszuagieren.