Tagesspiegel, 07.07.2023
Rechts ist die neue Mitte. Wäre in Deutschland morgen Bundestagswahl, käme die AfD wohl auf rund 20 Prozent – ungefähr so viel, wie Grüne und Linkspartei zusammen. In dem Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit, der sich von dieser Entwicklung besorgt zeigt, wird über die möglichen Gründe debattiert. Sind gegenderte Nachrichtensendungen schuld? Schlecht vermittelte Heizungsgesetze?
Max Horkheimer, Begründer der Frankfurter Schule, der heute vor 50 Jahren verstarb, hätte angemahnt, tiefer zu blicken, erstaunt gewesen aber wäre er nicht. Pünktlich zum 50. Todestag sind mehrere Publikationen erschienen, die erklären, wie relevant sein Denken noch ist – etwa der Essay „Der junge Horkheimer“ von Arno Münster oder die Einführung „Zur Aktualität von Max Horkheimer“ von Gerhard Schweppenhäuser. Was hat uns Horkheimer heute noch zu sagen?
Obwohl sich seine Haltung später differenzierte, ging er auch noch im Alter davon aus, dass die Widersprüche des Liberalismus dazu führen, dass sich dieser selbst kannibalisiert. Die liberale Ordnung habe in sich die Tendenz, früher oder später in Faschismus zu münden.
Den Umschlag einer parlamentarischen Ordnung in ein autoritäres Führer-Regime hat Max Horkheimer hautnah erlebt, sein Denken kreiste fortan um dieses Geschehen. Kurz nachdem er die Leitung des in der Weimarer Republik gegründeten „Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ übernommen hatte, musste er als Jude und Marxist ins Exil. 1933 ging es in die Schweiz, von dort aus nach New York an die Columbia University und später nach Pacific Palisades in Kalifornien.
Er bildet einen Kreis vor allem deutsch-jüdischer Denker, der bis heute als Frankfurter Schule bekannt ist. Das, was man in der mittlerweile x-ten Generation noch immer als Kritische Theorie bezeichnet, findet im US-Exil seine Form. Max Horkheimers und Theodor Wiesengrund Adornos Rückkehr ins postfaschistische Deutschland, an die Frankfurter Uni im Jahr 1950, leitet dann schließlich nicht weniger ein, als die intellektuelle Wiedergeburt des von allen guten Geistern verlassenen Landes.
Horkheimer kommt 1895 in Stuttgart-Zuffenhausen zur Welt, als Sohn eines jüdischen Kunstwollfabrikanten. Er soll die Leitung der väterlichen Firma übernehmen, geht aber nach München, Frankfurt und Freiburg, um Philosophie, Psychologie und Nationalökonomie zu studieren. Durch Schopenhauers Mitleidsethik geprägt, ist er vom Arbeiterelend erschüttert, avanciert bald zum unorthodoxen Marxisten. Als Ordinarius für Sozialphilosophie und Direktor des Instituts für Sozialforschung hat Horkheimer große Ziele. Er will die Gesellschaft als ganze durchleuchten. Die Philosophie stellt die Fragen bereit, die empirisch arbeitenden Einzeldisziplinen sollen sie präzise beantworten helfen. Durch die Forschung von Denkern wie Adorno, Leo Löwenthal oder Erich Fromm fusioniert die Kritik der politischen Ökonomie mit Kulturtheorie und Psychoanalyse.
Voreilige Schlüsse des marxschen Denkens will man sozialpsychologisch korrigieren. Die entscheidende Frage, die Horkheimer umtreibt: Warum rebellieren die geknechteten Massen nicht gegen die kapitalistische Herrschaft, so wie Marx es vorausgesehen hatte, sondern geilen sich lieber an der Volksgemeinschaft auf? Und warum entstehen dort, wo sie rebellieren, aus den widerstreitenden Klasseninteressen eben keine sozialistischen Freiheitsparadiese, sondern neue bürokratische Machtapparaturen? Die Freunde Adorno und Horkheimer erkennen: Dass das Sein automatisch das Bewusstsein bestimmt, also jenes in den Werkhallen erfahrene Elend stets klassenbewusste Proletarier erzeugt, die sich für Freiheit und Gleichheit engagieren, ist kurzschlüssig und psychologievergessen.
Selbst die in den Fabriken herrschenden Gedanken können die Gedanken der Herrschenden sein. Das autoritär-hierarchische Weltbild der liberal-bürgerlichen Klassengesellschaft ist auch vielen Knechten in den Leib eingeschrieben. Nicht selten bejubeln Menschen ihre Unterdrücker. So zeigen Adorno und Horkheimer in ihren Studien zum autoritären Charakter, wie die empfundene Machtlosigkeit im engen Korsett der „verwalteten Welt“ durch die Bindung an Führerfiguren kompensiert wird. Der kleine Mann freut sich, zum Volk zu gehören, er identifiziert sich mit jenen, die stark sind und nicht mit denen, die schwächer sind als er. Gegen diese aber richtet sich die aufgestaute Wut. Und anstatt die Verhältnisse verantwortlich zu machen, werden die Weltübel personifiziert, und dem ewigen Sündenbock, „dem Juden“, zugeschoben, der als Opfer „falscher Projektionen“ fungiert. Nicht von ungefähr gelten Horkheimer und Adorno heute...