Der Tagesspiegel, 08.01.2021
Als abgelagerte Geschichte ruht der Antisemitismus im Unterbewusstsein christlich geprägter Gesellschaften, bleibt mitunter eine Weile latent und drängt dann plötzlich an die Oberfläche. Er passt sich dem jeweiligen Zeitkontext an – gleicht einem Virus, das ständig mutiert.
In der Reihe wahnhafter Ressentiments ist der Antisemitismus das hartnäckigste. Wenn er bloß ein Set schlechter Vorurteile wäre, könnte man ihn gut mit Argumenten bezwingen. Doch als „kognitives und emotionales System mit weltanschaulichem Allerklärungsanspruch“, als das ihn der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn bezeichnet, ist Antisemitismus von Affekten durchdrungen und zeigt sich weitestgehend faktenresistent.
Die historische Kontinuität des Judenhasses und seine sozialpsychologische Funktion machen antisemitismuskritische Bildungsarbeit auch im 21. Jahrhundert zu einer Herkulesaufgabe. Können Aufklärung und Bildung diesem tief verwurzelten Ressentiment überhaupt etwas entgegensetzen?
In einer Zeit, in der antisemitische Einstellungen immer freimütiger artikuliert werden, bringt der Zentralrat der Juden in Deutschland jetzt den Sammelband „Du Jude“ auf den Markt. Eine Reihe namhafter Forscherinnen und Forscher stellt sich der Frage nach den pädagogischen Konsequenzen zeitgenössischer Antisemitismusstudien. Wie ist die Bildungslandschaft aufgestellt? Sind zum Beispiel Lehrerinnen hinreichend geschult, um Judenhass in all seinen Erscheinungsformen erkennen und wirksam bekämpfen zu können? Und was muss Pädagogik generell leisten, um hier eine Aussicht auf Erfolg zu haben? Auch wenn sie keine Wunder vollbringen könne, sei die politische Bildung nach wie vor der zentrale Schlüssel im Kampf gegen Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sagt der Kreuzberger Pädagoge und Antisemitismusexperte Dervis Hizarci...