Der Tagesspiegel, 24.8.2020
Frau Daston, als Wissenschaftshistorikerin haben Sie unter anderem die Entwicklung des wissenschaftlichen Ideals methodischer Objektivität untersucht. Was unterscheidet das Wissen der Wissenschaft von anderen Formen des Wissens?
Jede Gesellschaft in der Weltgeschichte kultiviert verschiedenste Formen des Wissens. Das vorwissenschaftliche Wissen ist aber meistens praktischer Natur – man benutzt es, um erwünschte Ergebnisse hervorzubringen. In der Wissenschaft hingegen geht es um eine permanente Überprüfung der eigenen Wissensmethoden. Und darum, nicht nur Vorhersagen zu treffen, sondern diese auch umfassend erklären zu können. Es gibt Wissensformen die lediglich erklären und keine praktischen Ergebnisse hervorbringen. Noch häufiger gibt es das Gegenteil, Ergebnisse ohne Erklärung. Die Wissenschaft aber muss beides verbinden.
Aktuell ringt die Gesellschaft im Zuge der medizinischen Forschung zum Corona-Virus damit, dass unser vermeintlich objektives Wissen oftmals bloß vorläufig ist. Die Studie von heute kann morgen schon von gestern sein. Wie können wir lernen, damit umzugehen, dass Erkennentnisse auf tönernen Füßen stehen?
In der Wissenschaft geht es wohlgemerkt um das Ideal einer Verfahrens-Objektivität. Nicht darum, zeitlose Wahrheiten zu produzieren. Objektivität ist gleichsam eine Prozedur zur Eliminierung von Fehlerquellen – die Subjektivität der Forschenden soll, wo es möglich ist, ausgeblendet werden. Das Wissen, das Wissenschaft produziert, ist indes niemals absolut, immer vorläufig und prinzipiell revidierbar. Es geht eher um Wahrscheinlichkeiten als um eherne Wahrheiten. Das muss man sich vor Augen führen, wenn man mit wissenschaftlichem Wissen konfrontiert ist. Der Begriff der Wahrheit stammt aus einem anderen epistemischen Universum. Wahrheit ist eine platonische Vorstellung, geeignet eher für die Theologie, nicht für die moderne Wissenschaft. Würde die Wissenschaft ewige Wahrheiten aufbieten, gäbe es keinerlei Fortschritt mehr...