Tagesspiegel, 25.06.2023
Einmal angenommen der Massenmörder Wladimir Putin würde mit der üblichen wächsernen Miene dereinst in Den Haag auf der Anklagebank sitzen und vom internationalen Strafgerichtshof zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt: Hätte man ihn damit zur Verantwortung gezogen, wäre der Gerechtigkeit Genüge getan? Wahrscheinlich werden viele der Auffassung sein, dass die Taten eines Kriegsverbrechers wie Putin durch modernes Recht nicht gesühnt werden können. Das Bedürfnis einen solchen durch grausame Rache erleiden zu lassen, was er zugefügt hat, bliebe sicher bei nicht wenigen Opfern bestehen.
Moderne Gesellschaften erheben den Anspruch, emotionsbefreite Strafsysteme etabliert und die vermeintlich archaische Rache durch objektive Rechtsprechung abgelöst zu haben. Wo Rache war, ist Recht, wo Affekt war, ist Vernunft – so lautet die Selbsterzählung säkularer Rechtsstaaten, die sich in der Tradition der Aufklärung sehen. Doch welche Rolle spielt Rache noch in unserer Gesellschaft und für sich aufgeklärt wähnende Subjekte? Ist das Wie-du-mir-so-ich dir-Bedürfnis schlicht ein wesentlicher Teil unserer Zwischenmenschlichkeit und als Detektor erlittenen Unrechts über den historischen Wandel erhaben?
„Unterhalb dessen, was als justiziabel gilt, sind Rachebedürfnisse und Rachepraktiken in unserer Gesellschaft gleichsam allgegenwärtig“, sagt Mario Gollwitzer, Professor für Sozialpsychologie an der LMU München, der das Thema Rache seit Jahren beforscht. Psychologisch gesehen sei ein Racheimpuls das Bedürfnis einer Grenzverletzung zu begegnen, auf das mein Gegenüber doch bitte erkennen möge, dass es mit mir so nicht umgehen darf. Sogenannte Mikropraktiken der Rache, wie die abschätzige Geste und der fiese Kommentar, gehörten in Familien, unter Freunden und Kollegen oft zum Alltag, doch würden nicht als Rache erkannt. „Moralische Gefühle, wie Ärger oder Zorn, und der aus ihnen resultierende Wunsch sich zu rächen, sind auch ein wichtiges Alarmsystem der Psyche“, sagt der Forscher. Es zeige an, dass man schlecht mit uns umgegangen ist, und dass wir dem etwas entgegensetzen sollten.
Uns auszumalen, dass und wie wir uns rächen, scheine uns erst einmal Lust zu bereiten. Doch befriedigt es uns auch, wenn wir die Rache vollziehen? Einige Studien...