Der Tagesspiegel, 13.7.2016
Herr Rosa, Lebenskunstphilosophen erklären gerne, ein sinnvolles Leben sei auch ein gelingendes. Sie hingegen sprechen dem Begriff Sinn die Qualität ab, als positives Gegenbild der Entfremdung hinzureichen. Warum?
Sinn ist eine nachgeordnete Kategorie, er kommt dort ins Spiel, wo sich Resonanzen entfalten. Wer sich komplett niedergeschlagen fühlt, den wird kein Argument von der Sinnhaftigkeit einer Sache überzeugen können. In dem Moment, da wir von etwas berührt werden – zum Beispiel wenn wir ein großartiges Musikstück hören –, erscheint uns die Welt als sinnvoll. Umgekehrt ist es aber nicht so, dass uns die Sinnhaftigkeit einer Sache schon zu berühren vermag.
Wie verhält es sich mit Autonomie? Ist ein autonomes Leben ein gutes Leben?
Anders als Sinn ist Autonomie nicht nachgeordnet, sondern einseitig. Das Gewicht liegt hier auf der Haltung des Subjekts: Ich muss mich bestimmen, das Richtige für mich tun, mich entfalten. Natürlich ist Autonomie eine Grundbedingung. Wenn jemand daran gehindert wird, seine eigene Stimme, zum Beispiel seine sexuelle Begehrensform, zu entfalten, ist er auch nicht resonanzfähig. Selbstwirksamkeit ist das eine Ende der Resonanzbeziehung. Ich meine aber, dass Leben erst dort gelingt, wo wir von einem Anderen affiziert werden, wo wir die Fähigkeit ausbilden, eine andere Stimme zu hören. Das führt zuweilen gerade dazu, dass wir Autonomie verlieren. Beispiel Liebesbeziehung: Das vollständige Überwältigt-Werden ist doch gerade das, was Entfremdung beseitigt und Resonanzen erzeugt…