tip, 13.11.2013
Die Splitter der Geschichte sind Wolfgang Haney unter die Haut gegangen. Vorübergehend sei er an ihnen sogar krank geworden, sagt der bald 90-jährige Berliner mit einer kräftigen Stimme, die durch keine Nuance von seinem fortgeschrittenen Alter zeugt – krank geworden an den Devotionalien des Terrors, die er leidenschaftlich anhäuft wie andere Sammler Porzellan oder Zinnsoldaten. Und doch, obwohl sich der Auswurf der Vergangenheit als Ausschlag auf seiner Haut ablegte, obwohl es ihn fertiggemacht hat, auf “Millionen von Tote“ zu leben, wie er sagt, hat er es nicht lassen können. Die Idee, seine Sammlung zu verkaufen, ist ihm nie gekommen in all den Jahren, in denen er nach dem “Material“ des eliminatorischen Antisemitismus fahndet.
Briefe, Ausweise, Lebensmittelkarten, Münzen und Prämienscheine aus Auschwitz und Oranienburg befinden sich in dicken Panzerschränken im Keller seines kleinen Hauses in der Siedlung Eichkamp in Charlottenburg. Dazu Judensterne aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Kroatien und der Slowakei, Streichholzschachteln, bedruckt mit judenfeindlichen Reimen. Sowie 2000 antisemitische Postkarten aus aller Herren Länder – von Dänemark bis Brasilien.
Warum aber macht man so etwas? Wie kommt man dazu, sich eine hakennasige Schießbudenfigur, einen Nussknacker mit antisemitischem Design, eine vichy-französische Stempelmaschine, die das Stigma “Juif“ und damit den Tod in den Pass eintrug, oder Etiketten von Zyklon-B-Fässern ins Haus zu holen? Die Schoah ist kein Ereignis, das einen nostalgischen Blick erlaubt. Also wieso das alles?
Wolfgang Haney springt aus seinem Sessel auf. “Warten Sie“, ruft er und steigt auf eine Leiter. Er holt das Buch „Geld des Terrors“ aus dem Regal, in dem der Historiker Hans-Ludwig Grabowski auf der Grundlage von Haneys Prämienschein-Sammlung die Logik der Ausbeutung und die Bürokratie der Vernichtung kartiert. Haney weiß, wie geschichtsvergessen die Menschen sein können, wie das begangene Unrecht zuweilen hinter sauber geschnittenen Hecken und mit Primeln bestickten Gardinen verschwindet.
Mit seiner Sammlung möchte er ankämpfen gegen das Vergessen, im Bewusstsein halten, was damals war, um allen etwaigen Anfängen zu wehren. Wenn er sein Material aus dem Panzerschrank holt, kann er am Gegenstand den Alltag der Exklusion und die Praxis der Vernichtung belegen, von denen auch seine eigene Familie betroffen war. Seine jüdische Mutter entging nur knapp der Deportation, sein „arischer“ Vater malochte in einem Strafbataillon, weil er sich von seiner Frau nicht trennen wollte, sein Onkel mütterlicherseits wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Die Novemberpogrome von 1938 erlebte Haney als 14-Jähriger, ohne dass er genau realisiert hätte, was da eigentlich passierte. Erst kurze Zeit später, als er aufgrund seines Status als sogenannter “Mischling ersten Grades“ von der Schule flog, wurde ihm das Prekäre seiner Lage wirklich bewusst. Nachdem seine Mutter von der Gestapo eine Vorladung erhalten hatte, brachten er und ein paar Freunde aus Eichkamp die Frau in das etwa 30 Kilometer östlich von Berlin gelegene Rehfelde und bauten ihr dort im Wald eine Holzhütte, wo sie sich zwischen 1944 und 1945 versteckt hielt. Jeden Samstag hat Haney dann eingekauft, “soweit man wat kriegt“, wie er sagt, und Essen in den Wald zu seiner Mutter gebracht. Da es viele Mitwisser gab, bestand immer die Gefahr, verpfiffen zu werden. “Dann steigen Sie aus an der Bahnstation“, sagt Haney, “und gucken: Steigt da vielleicht noch einer aus? Wat ist dit für einer, der da noch aussteigt? Sie leben ja in ständiger Angst, Sie leben ja in einem Entsetzen! Hinter Ihnen ist ein Reh oder ein Fuchs, es knackt und Sie denken sofort an die Gestapo“ Haney stockt und wirft dann hinterher: “Ick meine, dit Nächste hinter uns war dit KZ, weiter nüscht“
Sein Vater riet ihm, eine Maurerlehre anzustreben, auch wenn ihn das „nicht die Bohne interessierte“ (Haney wollte eigentlich Archäologe werden, was ihm während der NS-Zeit freilich nicht vergönnt war – und was er dann viel später bei seinen „Grabungen“ auf Sammlerbörsen ja irgendwie doch noch geworden ist). Durch „Glück, Betrug und Beziehungen“, wie er sagt, bekam er einen Ausbildungsplatz, nachdem er wegen seiner jüdischen Verwandtschaft zuvor diverse Male abgelehnt worden war: „Als Halbjude durft ick ja nüscht, gerad ma Luft atmen, und auch dit nur unjern.“
Nach dem Krieg wurde Haney dann Ingenieur, nebenher frönte er der Leidenschaft des Münzensammelns, die ihn schon als Kind begleitet hatte. Doch erst Ende der 80er-Jahre, kurz bevor er in Pension ging, begann der passionierte Numismatiker damit, die Artefakte des NS-Terrors zusammenzutragen. Zunächst stieß er durch Zufall auf einen KZ-Geldschein aus Oranienburg, auf dem „ein Mensch abgebildet ist, der hinter Stacheldraht steht, bewacht von einem SS-Mann mit geschultertem Karabiner“. Es faszinierte ihn, dass es so etwas gegeben hatte. Schließlich hängte er sich auf Münzbörsen ein Schild um: „Sammle KZ-Geld.“ Und am Ende habe es in der Szene nur noch geheißen: „Guck mal, da ist der Münzjude!“
Aber wie bekommt man das alles? „Nun, das ist nicht so leicht“, sagt Haney, „es gibt ja keinen Michel für Prämienscheine aus Auschwitz, aber ich will Ihnen ganz primitiv sagen, für Geld gibt’s allet auf der Welt, irgendwo taucht das auf.“ Haney nahm also in Kauf, ständig vom Schrecken der Vergangenheit umgeben zu sein und sich mit Leuten auf Geschäfte einzulassen, die vielleicht weniger hehre Ziele verfolgten als er selbst. Aber das war es ihm wert.
Mit dem von Haney zusammengetragenen „Prämiengeld“ konnte unter anderem in der vom Essener Sozialrichter Jan Robert von Renesse vorangetriebenen Debatte um die sogenannten Ghettorenten der Anspruch etlicher Holocaust-Überlebender auf eine Rente nachgewiesen werden. Die Kassen hatten argumentiert, es bestünde kein solcher Anspruch, da es sich bei der Ausbeutung in Ghetto und KZ nicht um freiwillige Lohnarbeit gehandelt habe.
Tatsächlich wurde indes im Ghetto zuweilen mehr oder weniger freiwillig gearbeitet. Und nicht wenige Häftlinge bekamen selbst im KZ der grausamen NS-Logik gemäß für ihre endgültige körperliche Selbstausbeutung Prämienscheine, mit denen sie sich dann ein bisschen vergammelten Tabak, eine knappe Essensration und die politischen (also nicht-jüdischen) Gefangenen auch mal einen Bordellbesuch leisten konnten. Haneys Sammlung hat ferner etlichen Historikern als Grundlage ihrer Forschung gedient, wird häufig von Museen angefragt.
Noch immer ist der 89-Jährige mit seinem Material unterwegs, in Polen, Österreich und Italien. Allein in Deutschland hat er mit der Bundeszentrale für politische Bildung knapp 70 Ausstellungen organisiert.
Auf die Frage, für wie virulent er noch heute die auf seinen Postkarten transportierten Stereotype hält, gibt Wolfgang Haney eine “schizophrene“ Antwort: “Ich sage Ihnen, der Antisemitismus ist noch nicht gefährlich, aber er ist gefährlich“ Mit seiner Sammlung möchte Haney heute – 75 Jahre nach den Novemberpogromen – auch dazu beitragen, diese Gefahr langfristig einzuhegen.