Philosophie Magazin, 21.10.2024
Winter 1989, das zweite Jahrtausend christlicher Zeitrechnung mündet in seine letzte Dekade. Ohne großes Getöse ist der Vorhang gefallen, fast als wäre er aus Seide, nicht aus Eisen gewesen. Der Realsozialismus ist förmlich kollabiert, das liberal-demokratische Ordnungsmodell bleibt als Sieger der Systeme auf der Weltbühne zurück. Wie im Rausch erklären sich die liberale Demokratie und ihre Wirtschaftsweise, der Kapitalismus, zur Formvollendung der menschlichen Geschichte.
Der dialektische Dauerlauf schien nun beendet, der Weltgeist hatte sich vollends entfaltet, die globale Gesellschaft war endlich am Ziel. Das Politische wurde zum Hintergrundrauschen, bloß Abwarten und Zuschauen stand auf dem Programm: Die Wonnen von Marktwirtschaft und Parlamentarismus würden auch die letzten Weltwinkel erreichen und eine ewige Gegenwart der Freiheit begründen. Die Geschichte selbst, das Prozesshafte der Menschheit, wurde nun als sepia-farbenes Merkmal weit entfernter Vergangenheit betrachtet. Die Zukunft war jetzt – gekommen, um zu bleiben.
Und wirklich: die westliche Demokratie schien zum politischen Exportschlager zu werden, die dritte Demokratisierungswelle erfasste viele Länder des zerbrochenen Ostblocks, der richtige polit-ökonomische Dünger sollte hier zu blühenden Landschaften führen.
Doch Vorstellung und Wirklichkeit fielen auseinander. Euphorie und Illusion sind ein paar Jahrzehnte später einer oftmals bleiernen Ernüchterung gewichen – und teilweise in nackte Angst umgeschlagen.
Die liberal-demokratische Gesellschaftsordnung wird in einem Zangenangriff attackiert, aus ihrem Inneren genauso wie von außen bedroht. Autoritäre Rechtspopulisten, radikale Formen des politischen Islam, ein reaktionär-imperialistisches Russland, der totalitäre Staatskapitalismus eines wirtschaftlich nach Westen ausgreifenden Chinas: Alternative Gesellschaftsentwürfe fordern die Lebensform des Liberalismus, die sich selbstgewiss als alternativlos verstand, auf breiter Front heraus – mit offenem Ausgang. Als autoritäre Gegenmodelle zum lange Zeit Ton angebenden System bleiben ihre ideologischen Konstrukte doch stets auf „den Westen“ als Feindbild bezogen.
Völkischer Faschismus und politischer Islam
Blickt man etwa auf den autoritär-völkischen Rechtspopulismus und den Islamismus als zwei transnationale Bewegungen, die sich ihrerseits scheinbar als Feinde begegnen, sticht auch ihre gemeinsame Feindschaft gegen den Universalismus ins Auge; und dass sich beide ideologischen Familien notorisch am Liberalismus abarbeiten.
In ihren radikalen Einheits- und Reinheitsphantasien, ihrer unbändigen Sehnsucht nach dem unbefleckten Ursprung und der regressiven Antwort auf die Wirren der Moderne sind sie sich doch sehr viel näher als es zunächst scheint. Dabei sind beide Bewegungen Produkte der Moderne, die mit hochmodernen Mitteln gegen diese agitieren (das heißt gegen bestimmte Aspekte derselben) – und tief in ihre Dialektik verstrickt. Sie reagieren allergisch auf die Emanzipation, auf die freie Entfaltung der Individuen, die das stahlharte Gehäuse der Gemeinschaft zersprengen. Beide wollen gleichsam vorwärts zurück, in eine Retrotopie des angestammten Lebens, als das „Volk“ und die „Umma“ – die Gemeinschaft der Muslime – noch angeblich jeweils identisch mit sich waren.
Der autoritäre Rechtspopulismus als spätmoderne Fortsetzung des völkischen Faschismus ist dabei aber, genauso wie dieser, nicht bloß Reaktion auf Freiheitsgewinne – sondern auch auf die sozialen und mentalen Verwüstungen, die kapitalistische Gesellschaften befördern. Frei nach Adorno ist der Faschismus stets auch das Wundmal einer Demokratie, die ihrem eigenen Begriff bis heute nicht gerecht wird. Mit Leo Löwenthal ließe sich ergänzen, dass die bevorzugten Themen des faschistischen Führers sich nicht selten als entstellte Versionen echter sozioökonomischer Probleme erweisen.
Der Faschismus nährt sich an einem Gemisch aus ökonomischen, politischen und kulturellen Gründen, profitiert von den die Menschen verunsichernden Krisen und richtet sich an tatsächlich abgehängte Arbeiter genauso, wie an ein verlustängstliches Kleinbürgertum, sowie den gut betuchten Bourgeois, der durch die emanzipatorische Entwicklung um seine Kulturprivilegien besorgt ist. Er wirbt – mit dem Marxisten August Thalheimer gesprochen – um die Deklassierten sämtlicher Klassen, die Frustrierten, Enttäuschten und Ausgebooteten, buhlt um die wirklichen Verlierer genauso, wie um Gewinner, die sich als Verlierer empfinden. So ist der Rechtsextremismus die falsche Reaktion auf Unterdrückung und auf Befreiung zugleich, zugespitzt gesprochen auf das Schlimme und das Gute, das mit dem Liberalismus in die Welt gekommen ist.
Ähnliches gilt für den Islamismus auch, der – zumindest in einem seiner dominanten Stränge – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als antikoloniale Bewegung reüssiert. Mit der Fetischisierung einer goldenen Ära der wenigen als rechtgeleitet geltenden Kalifen, wird auf den „Verfall“ der Sitten reagiert, auf den Wandel im Kontext der Modernisierung, den Ausbruch aus dem identitären Korsett und den Lebenswandel modernistischer Muslime – doch zugleich auf Eroberung und Unterdrückung der kolonialistischen Usurpatoren. Denn die Aufklärung rückt mit Kanonenbooten an. Die Freiheit, die sie so stolz vor sich herträgt, ist in erster Linie ohnehin nur als Freiheit weißer männlicher Besitzbürger gedacht – es ist die Freiheit des Kapitals, auf Raubzüge zu gehen. Doch im Ideen-Arsenal sowohl der liberalen als auch der sozialistischen Erzählung konnten auch jene ein Freiheitswerkzeug finden, die von weißen „Liberalen“ nicht weniger geknechtet wurden als von der Knute überlieferter Normen. Auch Islamismus ist eine falsche Reaktion auf Freiheit und Unterdrückung zugleich – zwar wendet er sich gegen die Herrschaft „des Westens“, doch auch gegen jedwede Emanzipation. Er terrorisiert denn auch häufig Muslime, die seiner rigiden Exegese nicht folgen.
Im Raster der Kritischen Theorie, und mithin im Röntgenblick der Psychoanalyse, erscheinen Faschismus und politischer Islam als Symptome einer kollektiv-narzisstischen Kränkung. Ein pathisch-projektiver Antisemitismus ist der ideelle Glutkern beider Phänomene, die Widersprüche der modernen Gesellschaft werden „dem Juden“ als vermeintlichem Verursacher der Auflösung von Identität angelastet. Liberalismus und Sozialismus werden im Juden dabei personifiziert.
Das Russland Wladimir Putins und das China Xi Jinpings
Aus einer Kränkung speist sich auch die Großmannssucht des Herrschers im Kreml, Wladimir Putin. Ideologisch dem Rechtspopulismus verwandt, mit ihm einig im Hass auf alles Liberale, unterscheidet ihn doch etwas von jenen Akteuren, die im Innern der liberalen Welt laborieren – und zwar die imperialistische Machtperspektive. Dabei nährt sich Putins kriegerischer Revisionismus nicht zuletzt durch das russische Empfinden, vom Westen seit den 1990er-Jahren häufig gedemütigt worden zu sein. Der Phantomschmerz im Angesicht des amputierten Großreichs war in Russland zunächst kein dominantes Gefühl. Man meinte nicht, einen Systemstreit verloren, sondern den Kommunismus abgeschafft zu haben. Dem in Russland heute verbreiteten Groll ob des Verlustes historischer Größe gingen die realen ökonomischen Verluste eines Großteils der russischen Bevölkerung voraus. Die liberale Demokratie wird in Russland vielfach mit der Schocktherapie assoziiert als die der plötzliche Umbau der sowjetischen Planwirtschaft zum Raubtier-Kapitalismus erschien. Im postsowjetischen Russland unter Jelzin ließen die Oligarchisierung auf der einen und das Elend der Massen auf der anderen Seite Träume auf ein besseres Leben zerplatzen, wodurch sich ein allgemeines Schmachempfinden überhaupt erst Bahn brechen konnte. Dieses wurde propagandistisch bespielt und in revanchistische Gelüste umgemünzt.
Während Russland für die sogenannte westliche Welt vor allem militärisch herausfordernd ist, ist „das Reich der Mitte“ es zumindest aktuell vor allem in polit-ökonomischer Hinsicht. Die Herausforderung durch das „chinesische Modell“ ist in Europa schon seit Längerem Thema – nicht erst seit man durch das Beispiel Ukraine mehr und mehr auch um Taiwan besorgt ist.
Der chinesische Parteistaatskapitalismus, diese kapitalistisch-kommunistisch-konfuzianische Institutionen-Collage, politisch repressiv, doch ökonomisch erfolgreich, geriert sich als hochpotente Alternative zur im Sinkflug befindlichen Demokratie. Der alte Mythos des Liberalismus, freie Marktwirtschaft bringe freie Bürger hervor, scheint durch China als solcher entlarvt. Ohne Zweifel können volkswirtschaftliche Erfolge auch politisch unfreien Gesellschaften gelingen. Dabei ist Chinas immer lauteres Abgrenzungspathos gegen den westlichen Liberalismus nicht ohne die koloniale Ära zu verstehen, nicht ohne jene Zeit, die heute in China als das „Jahrhundert der Demütigung“ gilt. Auch hier ist die Kränkung ein Keim von Aggression.
Der Liberalismus als sein eigenes Problem
Dieser Tage scheinen viele Menschen auf dem Globus, sowohl im Innern als auch jenseits der liberalen Welt, mit Autoritarismen eher zu liebäugeln als mit der liberalen Demokratie.
Wie gesagt treibt der Liberalismus die Attacken gegen ihn auch aus sich selber hervor. Es ist nicht bloß die Idee der Befreiung des Subjekts aus den eng geschnürten Fesseln einer angestammten Ordnung, die autoritäre Allergien evoziert. Zugleich sind es die sozio-ökonomischen Dynamiken und die historischen Erblasten der liberalen Ordnung, aus denen sich die regressiven Anfechtungen speisen.
Dabei liegt die Enttäuschung, die der Liberalismus gleichsam notwendig hervorruft, auch darin begründet, dass sich eine bloß formale Freiheit immer wieder an ihren faktischen Ausübungsgrenzen stößt – viele sind bloß frei, unter Brücken zu schlafen. Man strampelt sich ab, aber kommt nicht voran. Während wenige frei sind, zu machen, was sie wollen, sind die meisten gezwungen, sich durchzulavieren und von permanenten Abstiegsängsten bedroht. Die krasse Diskrepanz zwischen einer theoretischen Multioptionalität und der durch den Kapital-Widerspruch bedingten limitierten Wirklichkeit der allermeisten Menschen hat sich im globalisierten Kapitalismus neoliberaler Provenienz dabei noch einmal gehörig verschärft.
Jenseits der liberal-demokratischen Gesellschaften selbst, liegt der schlechte Leumund des liberalen Skripts aber wie bereits angedeutet auch an seinem kolonialen Erbe. Das liberale Skript hat in den Kolonien gegen seine eigenen Grundwerte verstoßen. An manchen Prämissen des Liberalismus scheint etwas zu haften, das sie kippen lassen kann – in das Gegenteil dessen, was sie eigentlich meinten. Mit ihrer viel zitierten „Dialektik der Aufklärung“ wollten Adorno und Horkheimer zeigen, dass die nach Auschwitz rollenden Züge keinen Bruch mit der aufgeklärten Zivilisation, sondern ihre logische Folge bedeuten.
Der Totalitarismus sei tief in den Code der auf Beherrschung von innerer und äußerer Natur angelegten Aufklärung einprogrammiert. Die Aufklärung will mythische Weltbilder ablösen, doch schlage in Form eines naiven Szientismus letztlich selbst „in einen Mythos zurück“. Man muss dieser überaus düsteren Betrachtung nicht in jeder Einzelheit folgen, um anzuerkennen, dass die westlichen Gesellschaften statt dem kantischen Prinzip einer moralischen Vernunft oft einen instrumentellen Verstand walten ließen – und die Aufklärung mit Aufklärungsideen verrieten.
Die Freiheit, so der hermeneutische Spin liberaler, männlicher, weißer Besitzbürger, sei eine Qualität, für die man eine gewisse Reife brauche. Was Unterdrückung und „Moderneexport“ nicht nur legitimiere, sondern notwendig mache – eine Argumentation, die auch in den Begründungen der jüngeren US-geführten Kriege widerhallte.
Diese Hybris verzahnt sich mit dem traurigen Befund, dass der hiesige Wohlstand auf Ausbeutung gründet. Das geschieht heute deutlich subtiler als früher. Dennoch: Die vom „globalen Norden“ dominierte Weltwirtschaftsordnung hat viele Entwicklungsländer übervorteilt; erschwert etwa den Aufbau lokaler Industrien. Zahlreiche Volkswirtschaften des Südens fristen so immer noch das unterprivilegierte Dasein von Rohstofflieferanten für die reicheren Nationen, ihr Wohlstand hängt vom Schwanken der Weltmarktpreise ab. Da scheinen Xi Jinping und seine Seidenstraße plötzlich attraktiv. Wenn die liberalen Demokratien des Westens nicht wollen, dass die aktuelle Wirtschaftsordnung langfristig vom aufstrebenden China dominiert wird, sollten sie den Ländern des globalen Südens endlich gerechtere Lösungen anbieten, nicht versuchen, ihr System mit Gewalt zu exportieren – und sich demütig der eigenen Kolonialgeschichte stellen.
Ein reflektierter Universalismus
Und doch dürfen Demut und Selbstkritik des Westens nicht zu einer radikalen Selbstzerfleischung führen. Denn diese stärkt ebenfalls den Autoritarismus, den Xiismus, Putinismus, Islamismus, Faschismus. Es scheint paradox: Der Westen muss unmissverständlich bekennen, dass im Namen des vermeintlichen Universalismus schlimmste Verbrechen begangen worden sind, dass die „Menschenrechte“ sich als solche proklamierten, aber nur für weiße Besitzbürger galten. Und doch muss die universalistische Idee, dass Menschen sich als Freie und Gleiche begegnen, auch weiter den utopischen Fluchtpunkt bezeichnen – so viel Missbrauch mit ihr auch getrieben worden ist. Zwar waren Freiheit- und Gleichheitsideen elitär und konterkarierten ihre eigenen Maximen. Trotzdem haben zahlreiche unterdrückte Menschen mit Hilfe der Ideen von Liberalismus und Sozialismus ihre Freiheit erstritten – gegen das real-liberale Modell.
So plausibel der Kulturrelativismus erscheint, wenn man der Verbrechen des Westens gedenkt, ist er moralisch und politisch fatal, da er Verschiedenheiten essenzialisiert. Edward Saids Konzept des Orientalismus mag ja teilweise gerechtfertigt sein, um zu zeigen, wie sich okzidentale Subjekte „den Orientalen“ als „Anderen“ erfanden, um sich selbst im Kontrast zu diesem Pappkameraden ihre eigene Zivilisiertheit vorzulügen. Die pauschal-orientalistische Betrachtung aber formt ihren eigenen Orientalismus, behauptet die unendliche Andersheit der Anderen, die jenseits einer postkolonialen Perspektive niemals auf adäquate Weise gelesen und bloß rassistisch beschrieben werden kann. Eben diese Lesart nutzt die Kommunistische Partei Chinas, nutzen die Hardliner in Moskau, nutzen die Mullahs in Teheran aus, um etwa die Forderung nach Menschenrechten als westlich-rassistische Anmaßung zu geißeln. So immunisieren sich die Henker und Mörder gegen eine unbedingt gebotene Kritik.
Es ist richtig, auf koloniale Kontinuitäten, auf Ausbeutung und auf Rassismus hinzuweisen, die immer noch auf strukturelle Weise persistieren. Die vermeintliche Ideologiekritik aber, die die postkoloniale Linke bemüht, ist ihrerseits ideologisch erstarrt. Eine Denkungsweise, die den vermeintlich bösen Norden gegen einen projektionskitschig idealisierten grundguten Süden profiliert, ist nicht nur gesellschaftstheoretisch unterkomplex, sie sekundiert auch einem grausamen Autoritarismus. So können sich faschistoide Regime gegen den Imperialismus profilieren, sogar dann, wenn sie wie China, Russland und Iran, ihrerseits imperialistisch operieren.
Die liberale Demokratie ist unvollständig und keineswegs gerecht. Weder sind Freiheit und Gleichheit politisch, noch gesellschaftlich voll realisiert. Von soziökonomischer Gleichfreiheit ganz zu schweigen. Und doch ist die schlechte Demokratie unter den heutigen Systemen immer noch das Beste. Mit einem Buchtitel von Astra Taylor gesprochen: „Democracy may not exist, but we will miss it, when its gone”.
Man muss das liberale Skript verändern, um es zu bewahren, es muss mit sich über sich hinausgeschrieben werden. Der Liberalismus und der Sozialismus, die verfeindeten Geschwisterkinder der Aufklärung, brauchen – zumindest als Denkperspektive – einen neuerlichen Versuch der Vermittlung. Sie stellen letzten Endes keine Gegensätze dar, sondern einander korrigierende Programme.
Die zivilisatorische Errungenschaft der bürgerlichen Freiheit sollte dialektisch aufgehoben werden, in einer sozialen Freiheit bewahrt, die die bislang häufig bloß juridische Freiheit an Möglichkeiten ihrer Ausübung koppelt. Gesellschaften, in denen alle gleichermaßen frei sind, substantiell und nicht nur formal, in denen individuelle und kollektive Freiheiten sich produktiv ergänzen, sind prinzipiell möglich.
Da der soziokulturelle Wandel und die Freisetzung von Freiheitsrechten ehemals marginalisierter Gruppen viele Menschen überfordern und häufig als symbolisches Verlieren erlebt werden, wird etwa der autoritäre Rechtspopulismus als immanente Anfechtungsform des Liberalismus nicht so bald verschwinden.
Und doch würde wirklich soziale Politik, die sich ernsthaft der sozioökonomischen Verwerfungen annähme (und gegen politische Verkrustung opponierte), die Übersetzung dieser strukturell bedingten Probleme in die Sprache des kulturellen Krieges erschweren. Auch hätten die Rechten es ungleich schwerer, die Abstiegsängste der unteren Schichten in rassistischen Hass auf Migranten umzuschmelzen. Stünde eine wirklich soziale Politik der kulturellen Liberalisierung zur Seite, würde die liberale Demokratie deutlich weniger Angriffsfläche bieten.
Auf globaler Ebene und mit Blick auf die äußeren Anfechtungen gilt analog: Wenn das „liberale Skript“ im ideologischen Kampf mit seinen autoritären Gegenmodellen nicht untergehen soll, muss es attraktiver werden. Es muss sich nicht nur wehrhaft gegen Rechtsextreme zeigen – und sich im Innern demokratischer und gleicher ausgestalten. Auch nach außen müsste sich der sogenannte Westen deutlich egalitärer gebärden, vor allem gegenüber den Entwicklungsnationen – wie gesagt ohne einem kulturellen Relativismus auf den Leim zu gehen, der nicht selten in moralischen Nihilismus mündet.
Der Status Quo aber scheint immer wieder zu Verwerfungen zu führen. Wer also lediglich bemüht ist, diesen zu erhalten, muss womöglich ewige Abwehrschlachten schlagen. Wenn die liberale Demokratie es nicht schafft, sich aus ihrer eigenen Verkrustung zu lösen, könnte sie womöglich an ihr Ende gelangen.
Dieser Artikel basiert auf der Einleitung und Teilen des Schlusskapitels von Christoph David Piorkowskis neuem Buch „Demokratie im Kreuzfeuer. Die Krise der liberalen Ordnung und die Internationale des Autoritarismus“ das gerade im Metropol Verlag erschienen ist.
Der Autor untersucht die Ideologien, Gesellschaftsmodelle und Machttechniken der autoritären Widersacher des Liberalismus und erklärt, in welcher Hinsicht die Demokratie für ihre Krise auch selbst verantwortlich ist – und wie sie sich verbessern muss, um weiter zu bestehen.